Krieg in Europa, wirtschaftliche Unsicherheit und gesellschaftliche Spaltung: Auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wirkt sich das derzeitige Klima im Land besonders negativ aus. Doch wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind „nur“ schlechte Laune hat, ob es „typisches“ Teenagerverhalten an den Tag legt oder ob es evtl. eine Depression oder Angststörung entwickelt? Wie sollten sie reagieren? Und was gilt es für Lehrkräfte zu beachten? Prof. Dr. Eva Asselmann, Expertin für Persönlichkeitspsychologie an der HMU, gibt Antworten.
„Eltern müssen keine fertigen Antworten haben“
Frau Prof. Asselmann, wie schätzen Sie die Belastung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland aktuell ein?
Viele Kinder und Jugendliche erleben derzeit eine ungewöhnlich hohe und dauerhafte Grundbelastung. Globale Krisen, soziale Spannungen und wirtschaftliche Unsicherheit erzeugen ein Klima, das auch junge Menschen sehr genau wahrnehmen, selbst dann, wenn sie es nicht immer klar benennen können. Studien zeigen, dass sich Ängste, depressive Symptome und Erschöpfung bei vielen Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren verstärkt haben. Wichtig ist aber: Nicht jede Belastung ist krankhaft. Psychische Reaktionen sind zunächst verständliche Antworten auf eine herausfordernde Umwelt.
Wo endet seelisches Unwohlsein und wo beginnt eine psychische Störung?
Seelisches Unwohlsein gehört zur Entwicklung dazu, besonders in Kindheit und Pubertät. Stimmungsschwankungen, Rückzug oder Gereiztheit können in belastenden Phasen normale Reaktionen sein, etwa nach Streit mit Freunden, bei schulischem Druck oder familiären Veränderungen. Kritisch wird es, wenn solche Veränderungen über mehrere Wochen anhalten, sich verstärken oder den Alltag deutlich beeinträchtigen. Ein Warnsignal kann zum Beispiel sein, wenn ein Kind über längere Zeit kaum noch Freude an Dingen hat, die früher wichtig waren, sich konsequent von Freunden zurückzieht oder alltägliche Anforderungen wie Hausaufgaben oder Hobbys kaum noch bewältigt. Auch anhaltende Ängste, etwa vor dem Schulbesuch, häufige Bauch- oder Kopfschmerzen ohne medizinische Ursache, deutliche Schlafprobleme oder ein spürbarer Leistungsabfall können Hinweise sein, dass mehr als eine vorübergehende Belastung vorliegt. Entscheidend ist dabei weniger ein einzelnes Symptom als vielmehr das Gesamtbild. Wenn Kinder oder Jugendliche zunehmend an Lebensfreude verlieren, sich hilflos oder wertlos fühlen und ihre Fähigkeit, mit dem Alltag umzugehen, deutlich eingeschränkt ist, sollte das ernst genommen und fachlich abgeklärt werden.
Was können besorgte Eltern tun, wenn sie das Gefühl haben, ihrem Kind geht es nicht gut?
Der wichtigste erste Schritt ist, präsent und ansprechbar zu sein. Das bedeutet ganz konkret, im Alltag Zeitfenster zu schaffen, in denen Gespräche möglich sind, etwa beim gemeinsamen Essen, auf dem Schulweg oder abends vor dem Schlafengehen. Wichtig ist, auch beiläufige Signale ernst zu nehmen. Sätze wie „Du wirkst in letzter Zeit oft sehr erschöpft“ oder „Ich habe gemerkt, dass du dich häufiger zurückziehst“ können Gespräche öffnen, ohne Druck auszuüben. Kinder und Jugendliche brauchen das Gefühl, dass ihre Sorgen nicht relativiert oder vorschnell gelöst werden. Statt sofort Ratschläge zu geben, hilft es häufig mehr, zuzuhören und zu spiegeln, dass das Erlebte belastend ist. Eltern müssen keine fertigen Antworten haben. Oft reicht es, gemeinsam zu würdigen, dass etwas gerade schwer ist. Gleichzeitig geben stabile Routinen Sicherheit. Regelmäßige Mahlzeiten, verlässliche Schlafzeiten und klare Absprachen schaffen Orientierung. Kleine positive Erfahrungen im Alltag, etwa ein gemeinsamer Spaziergang oder ein vertrautes Ritual, können entlasten, ohne Probleme zu verdrängen.
Ab wann sollten Kinder bzw. Jugendliche dem Haus-/Kinderarzt vorgestellt werden und wann empfiehlt sich professionelle therapeutische Hilfe?
Wenn Eltern unsicher sind, ist der Haus- oder Kinderarzt häufig eine gute erste Anlaufstelle. Spätestens dann, wenn Symptome über mehrere Wochen bestehen, sich verschlimmern oder das Kind stark leidet, sollte professionelle Hilfe in Betracht gezogen werden. Das gilt insbesondere bei möglichen Anzeichen von Selbstverletzung, ausgeprägter Hoffnungslosigkeit oder massiven Ängsten. Sich frühzeitig Unterstützung zu holen, ist kein Zeichen von Versagen, sondern von Verantwortung.
Wie können Eltern, aber auch Lehrkräfte die Resilienz und Selbstwirksamkeit von Kindern und Jugendlichen stärken?
Resilienz entwickelt sich vor allem durch die Erfahrung, Herausforderungen bewältigen zu können. Dafür ist es wichtig, Kindern altersangemessene Verantwortung zuzutrauen, ihnen Entscheidungsspielräume zu geben und sie auch Fehler machen zu lassen. Nicht jedes Problem muss sofort gelöst werden. Begleitung ist oft hilfreicher als sofortiges Eingreifen. Lehrkräfte können Selbstwirksamkeit stärken, indem sie Lernfortschritte sichtbar machen und nicht nur Ergebnisse bewerten. Rückmeldungen, die Anstrengung, Entwicklung und Durchhaltevermögen betonen, fördern Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Eltern unterstützen diesen Prozess, indem sie Erfolge würdigen, Rückschläge nicht dramatisieren und vermitteln, dass Gefühle veränderlich sind und bewältigt werden können. Besonders wichtig ist die Erfahrung, gehört und ernst genommen zu werden. Kinder und Jugendliche, die erleben, dass ihre Perspektive zählt, entwickeln eher Vertrauen in sich selbst und in ihre Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
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